Die letzten vier Tage habe ich in Medellín bei Laurent und Mariana verbracht. Laurent kenne ich aus der Berner Orchesterwelt – wir haben, ohne es zu planen, gleichzeitig in drei verschiedenen Orchestern gespielt und sind uns so über die Jahre hinweg immer mal wieder über den Weg gelaufen. Mariana ist Laurents Freundin und in der Nähe von Medellín aufgewachsen.
Medellín ist eine Stadt, in welcher das Trauma vom bewaffneten Konflikt der letzten Jahrzehnte sehr stark spür- und sichtbar ist. Bisher hatte ich mich noch nicht im Detail damit beschäftigt, da mein Kopf durch die vielen Arbeiten an der Uni doch ziemlich absorbiert war. Natürlich war mir bewusst, dass in Kolumbien über lange Zeit Drogenhandel, Waffen und Korruption herrschten – und es heute, wenn auch in kleinerem Ausmass, teilweise noch immer tun. Kevin arbeitet schliesslich in einem dieser Krisengebiete und ohne den Konflikt wären wir beide heute wohl nicht in Bucaramanga. Gerade deswegen waren die letzten Tage so lehrreich und gleichzeitig schockierend für mich.
Comuna 13
Am Freitag besuchte ich mit Laurent eine Tour in der Comuna 13, einem Stadtviertel, welches um die Jahrtausendwende eines der Epizentren des bewaffneten Konfliktes darstellte. Ich habe historisch noch nicht den kompletten Durchblick, wie es so weit kommen konnte, dass die Situation hier in einem solchen Ausmass eskalierte. In der Comuna 13 jedenfalls hatten sich anfangs der 2000er-Jahre drei verschiedene bewaffnete Gruppierungen, welche sich auf dem politischen Spektrum ganz links positionieren, verschanzt. Schiessereien gehörten zur Tagesordnung, die zivile Bevölkerung ging durch die Hölle. Die Regierung unter dem damaligen Präsident Uribe versuchte in mehreren Operationen, die Drogenkartelle zu zerstören. Dies, in dem sie das Militär, in Zusammenarbeit mit einer ultrarechten paramilitärischen Gruppierung (davon gibt es, wie auch linksextreme Gruppierungen, bis heute viele), in die abgeschottete Zone schickte, um hunderte von Menschen zu verhaften. Das ist nicht ganz einfach, da der Stadtteil in einer äusserst hügeligen Zone liegt und den Bewohner:innen, als sie anfingen, dort Häuser zu bauen, "erst einfiel, dass sie auch noch Strassen bräuchten, als es schon zu spät war und kein Platz mehr dafür war" (Zitat unseres Tourguides).
Die Operación Orión im Oktober 2002 zählte als letzte dieser Offensiven. Sie beendete einerseits die jahrelange Gewaltspirale in der Comuna 13, hinterliess jedoch auch ein Schlachtfeld im Quartier und hatte die Festnahme von teils unschuldigen Personen zur Konsequenz. Im Nachhinein wurden ebenfalls diverse Menschenrechtsverletzungen von Seiten des Militärs und Paramilitärs bekannt, auf Grund welcher die betroffene paramilitärische Organisation, welche nach der Operation die Kontrolle über das Quartier erhielt, 2003 aufgelöst wurde.
Gleichzeitig entstand in den Jahren nach der «Befreiung» der Comuna 13 ein neues, erschreckendes Phänomen, das im ganzen Land angewendet wurde: Die falsos positivos. Spätestens seit Corona wissen wohl die meisten, was falsch-positiv bedeutet – Leute, die positiv getestet werden, tatsächlich aber nicht erkrankt sind. Kann passieren, auch Wissenschaft ist nicht perfekt. Für falsos positivos im bewaffneten Konflikt bedeutet dies jedoch meist die Ermordung der betroffenen Person. Genauer genommen bekamen kolumbianische Militärs Belohnungen, wenn sie möglichst viele Guerilleros auftrieben und mundtot machten. Offenbar waren die Belohnungen es wert, ziemlich planlos unschuldige Zivilist:innen zu ermorden. Laut BBC Mundo wurden zwischen 2002 und 2008 fast 6'500 Zivilpersonen auf diese Art umgebracht. Diese Zahl wurde letztes Jahr von der Justiz veröffentlicht und als «Kampfunfälle» deklariert. Kann passieren, auch das Militär ist nicht perfekt.
Wenn man heute die Comuna 13 betritt, trifft man auf stolze Menschen. Das Quartier ist voller farbiger Graffitis und die Bewohner:innen geben damit an, dass man dort, im Vergleich zu den chicen Stadtteilen, nicht ausgeraubt würde. Dazu ist in den letzten Jahren eine beeindruckende Infrastruktur entstanden. Kinder durften ihre eigene Schule designen, gleich daneben entstand ein riesiger Campus, welcher sportliche und kulturelle Beschäftigungsprogramme für die Jugend organisiert. Bildung ist eines der Hauptanliegen, in welches die Bewohner:innen der Comuna 13 investierten. Unser Tourguide, ein Jahr jünger als ich und in der Comuna aufgewachsen, erklärte, dass die Kinder von der Regierung in der Bewältigung des Konflikts komplett vergessen wurden. So sei die Gefahr, dass sie schon im jungen Alter von Guerilla-Gruppierungen rekrutiert und in den Drogenhandel involviert wurden, sehr gross gewesen.
Heute gibt es in der Comuna eine Universität, ein Spital und gute Schulen. Sogar die grösste Outdoor-Rolltreppe Lateinamerikas findet man dort vor. Als die Regierung die Bevölkerung fragte, ob sie am liebsten eine Strasse, eine Seilbahn oder eine Rolltreppe haben möchten, glaubte niemand daran, dass tatsächlich jemals irgendetwas gebaut werden würde. So stimmten sie, als Witz, für die Rolltreppe und waren umso erstaunter, als plötzlich Bauarbeiten begannen. Seit 2011 ist das Prestigeprojekt in Betrieb und erleichtert den Bewohner:innen und Unmengen von Tourist:innen den Alltag und die Erkundung des Quartiers.
Für die Menschen der Comuna 13 seien wir Tourist:innen ein Segen, erzählte unser Guide. Ein Grossteil des Geldes wird durch Touren, Rap- und Tanzveranstaltungen, den Verkauf von Kunstobjekten und Gastrononomie verdient. Die Leute wollen sehen, was aus dieser vom Konflikt stark getroffenen Region und ihren Bewohner:innen geworden ist – das Marketingkonzept funktioniert und beeindruckt. Nur während der Pandemie sei es sehr schwierig gewesen, da plötzlich niemand mehr gekommen sei. Daher seien sie sehr froh, dass der Tourismus im Land wieder an Fahrt aufgenommen hat – und die Comuna eines der beliebtesten Ziele in Medellín bleibt.
Die Comuna 13 ist ein Paradebeispiel dafür, was Zusammenhalt, Glauben an eine bessere Zukunft und Kreativität bewirken können. Der Stolz über das Erreichte ist den Leuten, zu Recht, ins Gesicht geschrieben.
Memorias
Zwei Tage später tauchte ich erneut ein in die Geschichte dieses Konfliktes, diesmal durch den Besuch des Museums Casa de la Memoria. Wer schon einmal im jüdischen Museum in Berlin war, kann sich die eindrückliche und bedrückende Stimmung ungefähr vorstellen.
Dunkel gestaltet zeigt das Museum verschiedenen Thematiken und vom Konflikt betroffene Gruppierungen auf. Dies auf teils sehr subtile Weise. Beispielsweise wurden Kinder aufgefordert, verschiedene Begriffe zu definieren. So wurde Liebe vom sechsjährigen José als "dass mein Vater und meine Mutter nicht sterben" und von der siebenjährigen Carolina als "sich verlieben kann Frieden bedeuten" definiert.
Ebenfalls gab es einen interaktiven Zeitstrahl, welcher die diversen Stadien des Konfliktes historisch darstellte und jeweils einem globalen Grossereignis des entsprechenden Jahres entgegenstellte. Dies vereinfachte mir den Kontext etwas und rief mal wieder in Erinnerung, dass in Lateinamerika vor wenigen Jahrzehnten fast überall Diktatoren herrschten.
Fast nicht auszuhalten waren die Fotowände, die einerseits Bilder von Kämpfen, vor allem jedoch vom Alltag in den betroffenen Regionen zeigten: Waffen, Kinder, Tote, Särge, Tränen und Spielplätze wild durcheinandergemischt. Am Ende der Ausstellung befand sich ein schwarzer Raum, der nur aus kleinen Lichtern und wechselnden Porträts von ermordeten Einzelpersonen und Familien bestand. Auf den schwarzweissen Familienfotos war die jeweils getötete Person eingefärbt, oftmals war jedoch das gesamte Foto farbig.
Wir waren alle ziemlich still, als wir aus der Ausstellung hinaus in den anliegenden, wunderschön farbigen Garten kamen. Niemandem war so richtig nach Reden zu Mute, niemand konnte und wollte die schönen Blumen wirklich geniessen.
Bis heute hat der kolumbianische Konflikt 9'237'051 Menschen zu Opfern gemacht. Das sind mehr als die gesamte schweizer Bevölkerung. Gut 7.5 Millionen davon haben in irgendeiner Form Hilfe eingefordert, die restlichen fast zwei Millionen sind entweder tot, verschwunden oder haben keinen Zugang zu Hilfeleistungen.
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