Als ich nach Kolumbien zog, stellte ich mich auf regelmässige sexuelle Belästigung ein. Ich erwartete Zustände, wie ich sie leider in Argentinien regelmässig erlebt habe, erwartete, dass ich auch am helllichten Tag ab und zu beim Vorbeilaufen mal eine Hand an gewissen Körperteilen spüre und mit Blicken und Kommentaren überhäuft werde. Dies war nicht der Fall - oder ich nahm es nicht wahr. Auf jeden Fall vermisste ich all dies kein bisschen und fühlte mich auch nicht weniger attraktiv oder begehrt als noch vor einigen Jahren in Tucumán, als diese Dinge zu meinem Alltag gehörten. Nein, meistens geniesse ich einfach die Ruhe und fühle mich richtig wohl hier.
Aber es gibt da so Tage.
Tage, an denen man die Kommentare und Blicke doch anzieht oder sie vermehrt bemerkt. Vielleicht sind es auch Tage, an denen die Männer der Welt irgendwie etwas verzweifelter sind als sonst. Die Ursache sei dahingestellt - die Tage gibt's einfach, da werden mir wohl viele Frauen Recht geben. Schon beim Schreiben dieses Beitrags breitet sich in mir eine gewisse Wut aus, wenn ich an solche Tage denke. Und um das an dieser Stelle noch kurz klarzustellen: Es ist hier nicht von DEN Tagen die Rede, auf die man sich sonst als Frau häufig bezieht - für einmal ist kein Blut involviert und wir können dieses gesellschaftliche Tabuthema also offiziell umgehen. Phu, zum Glück.
Beschäftigen wir uns also wieder mit schöneren und angenehmeren Thematiken wie sexueller Belästigung.
Ende letzter Woche war mal wieder einer dieser Tage. In den zehn Minuten Fussmarsch von meinem Zuhause zum Boxclub schaffte die Welt es, mich bis kurz vor Explosion zu provozieren. Schon zirka fünf Meter nach Verlassen des Gebäudes kam das erste "Que cuerpazo!" (Welch ein Körper!), gefolgt von Pfiffen, undefinierbaren Geräusche, noch mehr Kommentaren und einem kleinen Vulkan in meinem Inneren, welcher immer munterer vor sich hin brodelte. Alles konstant von anzüglichen Blicken verfolgt, welche ziemlich sicher keine Ahnung von der sich anbahnenden Eruption hatten.
Immer mal wieder frage ich mich, was in Köpfen von Menschen vorgeht, die Leute auf der Strasse mit Kommentaren belästigen. Denken sie, es werde als Kompliment aufgefasst? Hat schon jemals jemand positiv darauf reagiert? Hat sich schon mal eine Romanze ergeben, weil eine Frau nach einem nachgeschrienen "Hola Hermosa!" gedacht hat: "Hey, der ist sympa, der könnte der Vater meiner zukünftigen Kinder werden. Wir sollten jetzt unbedingt was trinken gehen."? Ich habe da so meine Zweifel, wenn ich ehrlich bin.
Nachdem ich einige "Cállate!" (Schweig!) verteilt und anschliessend aufgegeben habe, kam ich nach einer gefühlten Ewigkeit in meinem Boxclub an. Geladen erwiderte ich auf die Frage, wie es mir denn gehe (eigentlich eine Formalität, auf welche man stets mit "gut" zu antworten hat), dass die Männer heute ganz komisch drauf seien und ich kurz vor Explosion stünde. José, ehemaliger Box-Lateinamerikameister, lächelte verlegen und schaute mich anschliessend irritiert an. Ich trainiere meistens in Sport-BH und Leggins, ziehe jedoch für den Hin- und Rückweg jeweils noch ein T-Shirt über, um mir selber lieb zu sein. José hatte ebendieses T-Shirt nicht gesehen und fand also, dass es, wenn ich "so" draussen rumlaufe, doch mein Problem sei und nicht das der Männer. Dies trug nicht unbedingt zur Beruhigung des Vulkans bei. Dennoch entschied ich mich, ganz schweizerisch und diplomatisch, für das Halten eines feministischen Monologs und gegen das Auspeitschen des Lehrers mit dem Springseil.
Kleider sind nie Schuld an sexueller Belästigung.
Opfer sexueller Belästigung sind nie schuld an sexueller Belästigung.
Sexuelle Belästiger:innen sind immer Schuld an sexueller Belästigung.
José und ich haben eine äusserst humorvolle und gute Beziehung. Er merkte sehr schnell, dass sich die negative Energie, welche sich in mir angestaut hatte, prima zum Boxen eignete. Wann immer ich also Ermüdungserscheinungen zeigte, imitierte er die mich provozierenden Männer auf der Strasse, schrie mir ein "Hola Linda!" zu - und ich erbrachte neue Höchstleistungen. Die menschliche Psyche, so kompliziert sie auch scheinen mag, ist doch manchmal relativ einfach zu durchschauen. Dieser Instrumente Herr:in zu sein, macht wohl eine:n gute:n Lehrer:in aus. Nach dem Training fühlte ich mich stärker als je zuvor und trat mit breiter Brust den Heimweg an.
An jenem Tag war ich zufrieden, dass ich die negative Energie in positive transformieren konnte. An den meisten solchen Tagen bleibe ich jedoch frustriert zurück, angeekelt, hinterfrage mich selbst und die ganze Welt. Und denke, dass wir als Gesellschaft noch einen langen Weg vor uns haben.
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