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AutorenbildJulia Bosson

Der Ernst des Lebens

Ich habe, nicht zum ersten Mal in den vergangenen Jahren, mal wieder vergessen, dass ich gerne schreibe. Dafür gibt es natürlich eine Vielzahl an Gründen, wenn ich mir die Monate seit meinem letzten Text genauer anschaue. Masterarbeit und noch mehrere Seminararbeiten fertigstellen und abgeben, Reise in die Schweiz im Juli, Reise mit meinen Eltern durch Kolumbien im August, Wohnungssuche in Bogotá, Umzug in die erste eigene Wohnung, erster richtiger Job, erste berufliche Weiterbildung, ein (erst in Theorie) begonnenes Journalismus-Fernstudium, dazu der Versuch, in Bogotá Fuss zu fassen und mich an die deutlich kühleren Temperaturen zu gewöhnen… you name it. Der Ernst des Lebens hat mich eingeholt, wie es scheint.

Das mit dem Ernst ist so eine Sache. Erstmals bin ich ihm mit fünf Jahren in Grenada (das liegt in der Karibik) begegnet. Der Ernst führt(e) dort ein Hotel im Paradies, mit Baumhaus für die kleine Julia, leckeren Früchten und, in meiner Erinnerung, einem guten Sinn für Humor. Er hatte eine Glatze und ich fand es jeweils zum Schreien lustig, wenn der Ernst sagte, dass er jetzt Duschen und Haarewaschen geht. «Aber der Ernst hat doch gar keine Haare», dachte ich damals und bis heute ist der Ernst für mich glatzköpfig, stets gut gelaunt und trägt Bermuda-Shorts.

Einige Jahre später, am Tag meiner Einschulung, sagte mir mein Vater, heute beginne der Ernst des Lebens. Ich verstand nicht ganz, was der Ernst jetzt plötzlich in der Primarschule Hinterkappelen zu suchen hatte, der hatte doch eigentlich ein schönes Leben dort in der Karibik. Andererseits war ich beruhigt, dass der Ernst des Lebens in meinen Augen derselbe Ernst war, welcher mir damals glatzköpfig meine Babybananen und Pancakes zum Frühstück servierte. So schlimm kann der also nicht sein, der Ernst des Lebens, dachte ich mir. Und irgendwie finde ich das bis heute. Bei jeder grösseren Etappe, die ich im Leben starte, begleitet mich der Ernst. Entweder denke ich selbst an ihn, oder meine Eltern erinnern mich dran, dass jetzt aber wirklich der Ernst des Lebens beginnt. Mal wieder.

So rein theoretisch gesehen könnte man das wohl schon so betrachten. Hier sitze ich, allein in einer 10 Millionen-Stadt in einer Wohnung ohne Heizung und es regnet seit zwei Monaten ununterbrochen. Anfangs auch in meiner Wohnung, mittlerweile habe ich aber genug Druck auf die Verwaltung ausgeübt und die undichten Stellen im Dach sind geflickt. Ist also nur noch kalt in der Wohnung, nicht mehr nass. Ständig leicht erkältet musste ich mal wieder feststellen, dass ich im Herzen ganz klar ein Sommermensch bin. Und da kommt der Ernst des Lebens wieder ins Spiel. Mein neuer Job hat mich nämlich als erstes – der Kreis schliesst sich – in die Karibik geführt. Ich arbeite für eine kleine Schweizer NGO, welche Projekte in nachhaltiger Entwicklung in verschiedenen Teilen der Welt führt oder mitgestaltet, Lokalregierungen in ihren Bestrebungen hin zu klimafreundlichen Strategien berät und nun auch in Lateinamerika etwas mehr Fuss fassen will. Ich bin momentan die einzige Repräsentantin der NGO auf diesem Kontinent und habe zum Glück eine kolumbianische Organisation zur Hilfe, mit welcher wir einige Projekte gemeinsam aufbauen und die mir auch sonst Tipps, Expertise, einen physischen Arbeitsplatz und soziale Interaktion bietet. Von Tag 1 an bekam ich ein eigenes Baby anvertraut – das Projekt auf der Insel Múcura in der kolumbianischen Karibik. Da das Projekt innerhalb von wenigen Wochen von einem kleinen Säugling zu einem zur Finanzierung einreichbaren Kleinkind wachsen musste, durfte ich der kleinen Insel Ende September einen Besuch abstatten, um mir ein Bild der Situation zu verschaffen. Dabei begegnete mir zwar nicht der Ernst mit Kokosnuss und Blumenhemd, dafür eine unglaublich spannende und lehrreiche Zeit mit einer Inselgemeinschaft, welche bis anhin keinen wirklichen Zugang zu sauberem Wasser hat. Die Absenz von sauberem Wasser bringt logischerweise eine Vielzahl von Problemen, Krankheiten und ökonomischen Einschränkungen mit sich. Dazu kommt die in Kolumbien leider obligate Dosis an politischen Spannungen in Form von ungleichen Machtverhältnissen, einerseits wegen Familien, die ihr mit Drogenhandel verdientes Geld in Hotels auf der Insel investiert haben und andererseits aufgrund der geheimen Präsenz bestimmter bewaffneter Gruppierungen unter den Bewohnenden. Der Ernst ist also durchaus präsent auf der Insel Múcura, wenn auch in mir bisher unbekannter Gestalt.

Um das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, gehe ich hier nicht weiter auf das Projekt ein. Vielleicht berichte ich mal wieder davon, wenn es als pubertierendes Wesen auf eigenen Beinen steht und nicht mehr so vulnerabel ist.

Ich verabschiede mich mit einigen Fotos meines persönlichen Ernst des Lebens und hoffe, dass er mich in Zukunft nicht mehr so lange vom Schreiben abhält.

Nicht Ernst, sondern die Fischer der Insel Múcura

Trägt zwar Shorts, ist aber wohl auch nicht der Ernst. Zu viele Haare auf dem Kopf.
Regenwasser - die momentan einzige Süsswasserquelle auf der Insel.


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